„Kirche auf gutem (?) Grund“

von Manfred Alberti

Wenn ein Geschäft in der Innenstadt schlecht läuft, dann kann man das Geschäftsmodell auf den Prüfstand zu stellen. Wenn man aber sieht, dass es allen anderen Geschäften ringsherum viel schlechter geht, dann muss man vorsichtig sein, nicht die guten Grundlagen des eigenen Geschäftes zu zerstören. Politische Parteien, Sportvereine, Kegelclubs, Hobbyvereine, Bürgerinitiativen, Sozialvereine, Freikirchen, Jugendgruppen usw. fast alle gesellschaftlichen Gruppierungen haben in den letzten Jahrzehnten massiv Mitglieder und Bedeutung verloren. Wenn eine Institution mit Taufen, Babygruppen, Kindergärten, Elternarbeit, Schulgottesdiensten, Konfirmandenunterricht, Kinder- und Jugendfreizeiten, Gottesdiensten, Trauungen, Chören, Bibelstunden, Glaubensangeboten, Sozial- und Lebensberatung, Besuchsdiensten, Seelsorge, Hobbygruppen, Seniorenarbeit, Seniorenfreizeiten, Senioren- und Pflegeheimen, Beerdigungen und vielem anderen mehr fast die ganze Bandbreite des Lebens abdeckt und dadurch viele unterschiedlichste Menschen erreicht, dann ist das in einer so stark individualisierten Welt erstaunlich. 20,7 Mio. evangelischen Mitgliedern ist es eine kostenpflichtige Mitgliedschaft in dieser Institution wert, selbst wenn sie nur selten mit ihr Kontakt haben. Da sollte die EKD aufpassen, dass sie nicht gerade dieses sehr stabile Standbein der mitgliedernahen Ortsgemeinden mit ihren Reformbestrebungen zerstört.

Einer der Initiatoren der letzten Reformschrift von 2006 „Kirche der Freiheit“, der Vorsitzende des Arbeitskreises Evangelischer Unternehmer Peter Barrenstein, hat leider dieses mal nicht mitgearbeitet. Leider, denn er hat in einem aktuellen Interview die Ortsgemeinde in den Mittelpunkt gerückt, die weder in „Kirche der Freiheit“ noch in „Kirche auf gutem Grund“ eine wichtige Grundlage des Denkens und Planens war: „Diese Gelder würde ich lieber … in Pfarrer stecken, die vor Ort in der Gemeinde arbeiten. Die größte Bindung an die Kirche geschieht nun mal durch den Pfarrer. Wenn er mich kennt, steigt die Chance, dass ich in der Kirche drinbleibe.“ (Idea spektrum 39/2020 S. 20)

Neben der Bibel und den reformatorischen Glaubensgrundlagen ist sicher diese menschennahe Ortsgemeinde bei allen vielfältigen Verbesserungsmöglichkeiten ein guter Grund, auf dem die Kirche auch in Zukunft stehen kann.

Doch bei diesem Reformpapier von 2020 waren Vertreter der Gemeindeebene nicht gefragt. Was die Synode bewogen hat, neben den Bischöfen, ehemaligen Wirtschaftsführern und einer Politikerin, EKD – Experten und einer Vertreterin der evangelischen Jugend lediglich einen dem Humanismus verpflichteten Thinktank junger Leute und eine Organisation für Musicals und für kirchliche Freizeiten in bayrischen Schlössern als Gäste zur Mitberatung zu berufen, bleibt schwer zu verstehen. Die wichtigsten Teile der evangelischen Kirche haben nicht mitreden können: Gemeindeglieder, PresbyterInnen, kirchliche MitarbeiterInnen, PfarrerInnen und die theologischen Fakultäten mit ihrem enormen Wissen hatten keine Stimme. Diakonie und kirchliche Arbeitsfelder tauchen als Mitdenkende nicht auf. Oder sollen die Bischöfe die Stimme aller sein? 

Wenn als wichtiger Punkt in diesem Papier immer wieder die zentrale Öffentlichkeitsarbeit der EKD-Spitze mit dem eingeforderten Gehorsam aller anderen durchscheint, pervertiert das die Diskussionskultur des gemeinsamen Hörens und gemeinsamen Nachdenkens über den Glauben. Kirche sollte semper reformanda sein, von oben wie von unten her.

„Kirche auf gutem Grund“ wird ihrem Titel nicht gerecht. Bibel, Bekenntnisse oder reformatorische Grundeinsichten wie die zentrale Bedeutung der Gemeinden kommen in diesem evangelischen Grundsatzpapier so gut wie nicht vor. Sie wären aber entscheidend, um weitere falsche Entwicklungen durch die geplante Zerstörung der mitgliedernahen Gemeindekultur zu verhindern.

Anm.: Der Verfasser (geb. 1949) lebt nach 35 Jahren Gemeindepfarramt in Wuppertal – Sonnborn als Pfarrer im Ruhestand in Wuppertal.